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Lässt sich am Beispiel Auto – einem Produkt, das uns so dicht und weitreichend begleitet als wäre es Nahrung oder Kleidung - vielleicht besonders gut nachvollziehen, was und wie sich unsere Gesellschaft am Laufen hält? Wir steigen mit Marx ins Auto und freuen uns auf ein paar grundlegende Begriffsklärungen durch seinen Beifahrer Gaston Valdivia. Auf das wir hinterher genauer verstehen, warum das alles so unumstößlich zu sein scheint, wie es zu sein scheint.

Auch hier verfahren wir dialogisch: EBS legt vor, Valdivia nach.

Autofahren mit Marx

Wolfsburg 2019

Letztes Jahr war ich in Wolfsburg bei einer Werksbesichtigung von VW, dem weltweit größten Hersteller von Autos aller Art. Was ich wirklich interessant fand, war, dass der Guide, der uns in der Werkshalle herumgefahren hat (alle Besucher sitzen da in hintereinander gehängten offenen Wagen, der Guide sitzt ganz vorne am Steuer, fotografieren darf man leider nicht), keinen Hehl daraus gemacht hat, dass das offiziell angestrebte Konzernziel ist, die letzten noch verbliebenen real existierenden Arbeiter am Band nach Möglichkeit auch noch weg zu rationalisieren. Ich könnte mir vorstellen, dass das vor einigen Jahren noch anders war und man das bei einer Besucherführung nicht sagen durfte. Da war es nur das inoffizielle Ziel.

1. Das Auto als Ware

In der Warengesellschaft, auch Kapitalismus oder Marktwirtschaft genannt, sind Autos nicht nur Gegenstände zur Fortbewegung sondern vor allem Wertdinge. Mit anderen Worten: Waren...    weiterlesen

Ware Auto

2. Konzerne

Eigentumsrechtlich ist Volkswagen eine Aktiengesellschaft und hat daher viele Eigentümer*innen. Die Familien Porsche und Piëch halten die Aktienmehrheit...    weiterlesen

Konzerne

Das berühmte Roboterballett, das sich in der Werkshalle abspielt, war wirklich beeindruckend. Die können das alles ganz alleine und sind ein geradezu possierlicher Anblick. Menschen braucht man nur noch zu ihrer Überwachung und um am Ende zu prüfen, ob die Robos alles richtig gemacht haben, also ob das Auto auch fährt und die individuelle Innen-Ausstattung in Eierschal bekommen hat, die Familie Maier gebucht hat. Und natürlich braucht man noch Menschen, um die Roboter zu entwickeln, zu bauen, zu programmieren, zu warten und zu reparieren. Diese Menschen sind aber alle tendenziell nicht vor Ort, sondern woanders und Arbeiter:innen im soziologischen Sinne sind sie auch nicht.

General Intellect

Am Ende der Produktionsstrecke gab es noch einige wenige Arbeiter:innen, die z.B. im Innenraum des Autos Elemente gesteckt haben. Sie alle hatten dabei wiederum Unterstützung durch echt genial gebaute Exo-Skelette mit denen sie ergonomisch unterstützt wurden, um Rücken-, Arm-, und Schulterschmerzen zu vermeiden. Es gab z.B. einen Stuhl, mit dem man bequem in den Vorderraum des Autos hineinfahren konnte, um dort am Armaturenbrett zu arbeiten. Oder einen Roboterarm, der dem eigenen Arm beim über Kopf arbeiten das Gewicht abgenommen hat.

3. General Intellect und Automatisierung

Bei Marx kommt der Begriff des General Intellects nur einmal vor und doch ist er sehr bedeutend. Dahinter verbirgt sich die von Marx allerdings vielfach beschriebene Notwendigkeit im Kapitalismus, immer mehr Wissen und gesellschaftliche Erfahrung einsetzen zu müssen, um die Verwertungsmöglichkeiten zu erhalten und zu erweitern. Er schreibt...  weiterlesen

Blue Collar 1977

Vor ein paar Tagen habe ich mir Blue Collar angeschaut. Das ist ein Film von Paul Schrader von 1977. Er spielt in Detroit, Michigan. Also zu den Hochzeiten der Autoindustrie, in einer Region in den USA, die mit dem Auto assoziiert ist, wie keine andere. In der Eröffnungssequenz fährt die Kamera eine Produktionsstrecke in der Werkhalle ab. Ich fand‘s Wahnsinn zu sehen, wie hart diese Arbeit am Band zu dieser Zeit war. Das ist noch physisch, es wird geschweißt, gehämmert, genietet, die Arbeit ist monoton und laut, die Autoteile, die gehoben werden müssen, sind schwer, in der Werkshalle ist es heiß. Ein Vorarbeiter läuft durch die Reihen, kontrolliert, treibt an, haut auch mal einen demütigenden bzw. rassistischen Spruch raus. Viele Blacks sind unter den Arbeitern, Frauen sieht man kaum. Auch zwei der drei Protagonisten des Films sind AfricanAmericans, der Weiße (gespielt von Harvey Keitel) wird einmal als Polacke beschimpft.

Die drei Arbeiter, um die es in Blue Collar geht, können von ihrem erschufteten Lohn kaum ihre Familien ernähren. (Dass der Mann der Ernährer der Familie ist, gehört hier, 1977, zur Identität des Mannes genauso wesentlich dazu wie das Autofahren und der selbstverständliche Sexismus, aber das nur am Rande). Die drei versuchen einen kleinen Coup zu landen und Geld aus dem Safe der Gewerkschaft zu stehlen – mit der sie höchst unzufrieden sind, weil sie sich um ihre Belange nicht kümmert.

Im Safe ist aber nicht annähernd die Summe drin, die drin sein müsste. Ein Notizbuch fällt ihnen in die Hände, aus dem ersichtlich wird, dass die Gewerkschaft das von den Arbeitern eingezahlte Geld hinterzieht. Der Versuch, die Gewerkschaftsoberen damit im Folgenden zu erpressen, geht gründlich schief. Am Ende ist einer der drei ermordet, der andere gekauft - er erhält einen Posten in der Gewerkschaft, eine für einen Afroamerikaner rare Chance, und der dritte macht einen (schlechten) Deal mit dem FBI, das seit geraumer Zeit versucht, die Gewerkschaft wegen der Korruption zu überführen. Von den Kollegen wird er dafür als Verräter beschimpft.

4. Gewerkschaften

Historisch gesehen waren Gewerkschaften Verteidigungs-Organisationen der arbeitenden Menschen, die unter Hunger und unsäglichen Arbeitsbedingungen gelitten haben. Von Anfang an ging es um die Verbesserungen der Arbeits- und Lebensbedingungen innerhalb der warenförmigen Gesellschaftlichkeit und nicht um die Aufhebung des Geldes, der Lohnarbeit oder der fremdbestimmten Arbeit an sich. Letzteres war die ursprüngliche Zielsetzung der kommunistischen Weltbewegungen.   weiterlesen

Gewerkschaften

Wie anders die Arbeit heute, gerade mal 43 Jahre später in der Werkshalle von VW aussieht! Den Arbeiter und seine Situation, wie wir sie in Blue Collar sehen, gibt es in der Autoindustrie nicht mehr. Die Frage, was die Gewerkschaft dazu beigetragen hat und ob es richtig war und ist, ihr zu vertrauen und auf sie als emanzipatorische Kraft zu bauen, beantworten verschiedene linke Strömungen, so mein Eindruck, unterschiedlich. Abgesehen von seinem jährlich angepassten, im Vergleich mit vielen anderen Berufsgruppen hohen Lohn ist ein VW-Arbeiter heute rundum abgesichert. Man sorgt für ihn, seine Familie, seine Gesundheit, seine Fort- und Weiterbildung, seine Krankheit, seinen Urlaub, sein Alter, seine Freizeit. Streiks ziehen keine Entlassungen oder Verhaftungen mehr nach sind, sondern sind ein gut getaktetes Spiel mit hochprofessionellem Organisationsgrad, in dem jede Seite weiß, wie es zu spielen ist und wann es zu beenden ist. Gewerkschaftsvertreter sitzen in Aufsichtsräten. Arbeiter:innen sind Anteilseigner. Und alle, alle haben sie ein Auto.

Den Arbeiter im soziologischen Sinne findet man heute woanders, er ist Lieferando-Fahrer mit eigenem Rad und ohne Helm oder Doktorandin an der Universität oder Kamerafrau, die von Job zu Job holpert oder Saisonarbeiterin aus Rumänien. Die Arbeiterinnen von heute sind, so kommt es mir vor, die Solo-Selbständigen. Diese Arbeiter:innen haben keine Gewerkschaft und wollen sie auch nicht unbedingt, vielleicht weil ihnen Prinzip und Struktur überholt vorkommen oder suspekt sind oder aber verunmöglicht werden. Das bedeutet aber auch, dass sie buchstäblich nicht zusammenstehen können, keine gemeinsamen Forderungen entwickeln und durchsetzen können. Die Gewerkschaft hat sich, soweit ich das richtig verfolgt habe, bei Dieselskandal und Abwrackprämie auf die Seite der Konzerne und damit aus ihrer Perspektive auf die Seite der Arbeiterinnen geschlagen. Das Auto muss vom Band fahren, damit der Arbeiter Autofahren kann. Dass er und der Planet auf dem er lebt, demnächst gemeinsam ersticken, scheint für die Gewerkschaft eher so Fake News zu sein. Gewerkschaften, die rechtslastige Mitglieder versammeln, sprießen aus dem Boden.

Wenn die Arbeiter in der Fabrik keine Arbeiter mehr sind, sind sie auch sicher nicht das, was man als Arbeiterklasse bezeichnet, bzw. waren es vielleicht nie. Sie haben sich eine Behörde gebaut, die Gewerkschaft, die ihre Situation verbessert, sie befriedet und sie ihrer Klasse enthoben hat. Dass der Arbeiter die Revolution macht, glaubt das noch einer? Wer hat denn dann das Potential dem Kapitalismus den Garaus zu machen, der Kapitalismus selbst? Müssen wir nur warten und Däumchen drehen bis die finale Krise kommt oder können wir in der Zwischenzeit was tun? Und was ist jetzt eigentlich mit dem Roboter, der ja heute de facto der Arbeiter in der Autoindustrie ist (etym.: Roboter, slawisch: Arbeiter, Fronarbeiter).

5. Die Arbeiterklasse

Wir leben in einer Zeit, in der die traditionelle Industriearbeit, wie sie in Blue Collar gezeigt wird, tendenziell verschwindet. Das hat vielfach zu der Annahme geführt, dass die Arbeiterklasse verschwinden würde. In der Tendenz ist dies richtig. Es gibt sie aber noch und nicht zu knapp.  Noch immer arbeiten Millionen Arbeiter*innen wie vor fünfzig, hundert oder zweihundert Jahren. Der Kapitalismus ist ein globales System und zahlreiche industrielle Handarbeiten werden in die ärmeren Regionen der Welt ausgelagert. Sie verschwinden nur aus unserem hiesigen Blick. Aber auch hier stehen noch hunderttausende Frauen und Männer am Band in der Müllsortierung, Montage, Filetierung, Portionierung, Zerlegung in der Fisch- und Fleischindustrie.    weiterlesen

Arbeiterklasse

Roboter

Wenn ich die Arbeitssituation von 1977 in Blue Collar und die aus der Werksbesichtigung bei VW 2019 vergleiche, dann finde ich es super, dass diese buckelkrumme Arbeit kein Mensch mehr machen muss, sondern ein Roboter. Das Entsetzen, das die meisten Leute packt, wenn sie sehen, dass der Arbeiter „ersetzt“ wurde, kann ich nicht teilen. Ersetzt klingt, als habe der Roboter den Menschen umgebracht, damit er jetzt die Arbeit machen kann. Bzw. der Konzern hat den Arbeiter umgebracht, indem er statt Arbeiter eingestellt, Roboter aufgestellt hat. Wenn die Arbeiter was umgebracht hat, dann doch die Arbeit. Schön langsam und qualvoll. Oder auch mal ganz schnell. Das Problem ist natürlich, dass der frei gestellte, frei gewordene Arbeiter es tatsächlich schwer hat, bzw. es ihm in manchen Regionen der Welt unmöglich ist, ohne Arbeit zu überleben. Nur wer Geld verdient, kann und darf die Dinge kaufen, die er zum Über/Leben braucht. Nur wer arbeitet, hat eine Existenzberechtigung. Dabei wurde ja keiner gefragt, ob er existieren möchte.

Viele Menschen arbeiten gerne. Sie sind gerne tätig. Sie haben was gelernt und lernen gerne noch weiter und finden interessant, was sie machen und es gefällt ihnen, dass sie dabei mit anderen Menschen zu tun haben und mal aus dem Haus kommen. Der Moment, in dem man dafür Geld kriegt, der leuchtet mir persönlich nicht so recht ein. Der macht alles kaputt. Hier fängt der Wahnsinn an und die Ausbeutung. Weshalb die Lebenszeit des einen Menschen mehr wert sein soll als die eines anderen, erscheint nicht logisch. Was die Menschen auf der Welt so für eine Stunde Arbeit verdienen, das könnte unterschiedlicher nicht sein. Das hat was mit Ausbildung zu tun, heißt es dann. Oder damit, wie verantwortungsvoll eine Arbeit ist. Wir alle kennen sehr gut ausgebildete Menschen, die verdienen so gut wie nichts in der Stunde, und Menschen, die keinerlei Ausbildung haben, die verdienen so viel in der Stunde wie andere Leute im Jahr. Kann man diese heilige Allianz zwischen Arbeit und Geld nicht mal lösen? Könnte man das Geld nicht einfach auf den Bäumen wachsen lassen, damit die Leute endlich in Ruhe arbeiten können? Wenn ein Roboter eine Arbeit machen kann, dann ist sie doch sowieso so, dass der Mensch sich zum Roboter machen müsste, um die Arbeit auszuführen und das kann doch keiner wollen. Auch hier scheint die Gewerkschaft keine progressive Partnerin zu sein. Sie verteidigt die Arbeit mit Zähnen und Klauen, egal wie bekloppt sie ist, damit der Arbeiter seine Arbeit behalten kann. Verteidigt sie also eigentlich das Geld und somit die Warengesellschaft?

6. Die Arbeitskraft als Ware

Wenn ich zuhause koche, dann übe ich eine bestimmte Tätigkeit aus. Nach dem Kochen wird gegessen und fertig. Ich kann einen Teil des Essens mit dem Fahrrad zu Freunden bringen, damit sie auch etwas davon abbekommen. Ich transportiere Möbel für einen Umzug von Bekannten. Wieder eine andere Tätigkeit. In die Vergangenheit geschaut: Vor dem Kapitalismus ist die große Mehrheit der Menschen Tätigkeiten nachgegen, ohne dass sie dafür einen Lohn bekommen hätten.    weiterlesen

7. Geld

Geld kann ruhig auf den Bäumen wachsen, wie hier vorgeschlagen wird. Es ist vom Standpunkt eines guten Lebens überflüssig.  weiterlesen

8. Arbeitsfetischismus

Ich denke, dass bis hierher deutlich geworden ist, dass Marx die Realität, die der Wert setzt, strikt ablehnt. Sein Werk heißt Kritik der politischen Ökonomie und nicht Begrüßung der politischen Ökonomie. Die Kritik richtet sich gegen die Tatsache, dass Tätigkeiten den Charakter von Wert-Arbeit annehmen, die für die individuelle Reproduktion notwendig ist...  weiterlesen

Arbeitskraft als Ware
Arbeitsfetischismus
Geld

9. Begriffsklärung: Warengesellschaft, der bessere Begriff für unser System...

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Warengesellschaft

Autostadt

Direkt neben dem Werksareal – da geht man dann nach der Werksbesichtigung hin – gibt es die Autostadt. Das ist ein bisschen irreführend, weil Wolfsburg ja schon die (von Hitler 1938 gegründete) Autostadt ist, aber egal. Auf diesem Areal gibt es für jede Autofamilie von Volkswagen, also Audi, Seat, Porsche, Volkswagen usw., ein Gebäude. Jedes von ihnen ist anders gebaut oder sagen wir: designt, das trifft es besser, denn das ist ihr äußerer und innerer Zweck.

Betritt man diese Häuser, bekommt man dort jeweils eine ganze Palette an Inszenierungsformen geboten. Wie man das von Messen kennt, werden hier Imagefilme, Farb- und Lichtkonzepte, interaktive Terminals aufgefahren, die sich alle mit der Marke beschäftigen. Dem konkreten, aus vereinzelten Teilen zusammengesetzten Auto wird also, ein paar Meter entfernt vom Ort seiner Herstellung, das hinzugefügt, was es braucht, um wirklich ein Auto zu sein.

10. Marketing und Werbung

Die Logik der Verwertung, also Kostensenkung und Konkurrenz, zwingen die Unternehmen zur ständigen Ausweitung und Differenzierung der Produktpalette. Jeder hofft, seine Waren auf dem Markt losschlagen zu können. Angesichts des riesigen Angebots werden neben möglichst niedrigen Preisen, unzählige, psychologisch und soziologisch gut durchdachte, höchst kreative Marketingmaßnahmen ergriffen. Die Autostadt steht exemplarisch für diesen Wahnsinn.    weiterlesen

Marketing und Werbung

In der Autostadt gibt es außerdem einen Showroom mit den neusten Modellen zum Anfassen, es gibt Grünflächen, Biergärten, Spielplätze und ein Restaurant, in dem man die berühmte VW-Currywurst essen und weitere, haltbarere Merchandising-Artikel kaufen kann. Ein Disneyland der deutschen Autoindustrie, in das Familien anreisen, um nach Werksbesichtigung und Autostadtbesuch ihr nagelneues Auto aus dem gläsernen Turm feierlich in Empfang zu nehmen. Der Turm steht, mir scheint das der richtige Ort, genau zwischen Werksgelände und Autostadt. Dort kann man zuschauen, wie eine Art integrierter Gabelstapler die Autos aus den Regalen holt und nach unten transportiert, wo sie ihren rechtmäßigen Besitzern zugeführt werden.

Da steigt sie dann ein, die Familie Meier, und fährt mit dem neuen Auto auf die Autobahn, wo die ganzen anderen Millionen von Autos schon fahren. Noch so ein Fließband.


 

Eva Berlin-Schmidt

30.5.2020

Mit Karl Marx eine Tour zu unternehmen, dürfte für die meisten Menschen eine zweischneidige Angelegenheit sein. Für die einen ist er nach wie vor ein großes Vorbild und seine Theorien sind richtungsweisend für deren Weltsicht, bei anderen steht er in dem Ruf, ein finsterer Geselle zu sein, zu dem man lieber nicht mit ins Auto steigt. Marx kannte die ersten Experimente mit Fahrzeugen, die ohne Pedalkraft, Pferde und Wind quasi autonom fahren konnten. Marx verstarb 1883 und das erste Fahrzeug mit Verbrennungsmotor, das Motordreirad „Benz Patent-Motorwagen Nummer 1“, kam 1886 auf den Markt. Auch wenn er noch keine Touren im Privatwagen erleben durfte, befasste er sich als Anhänger des Fortschritts intensiv mit den Antriebsarten seiner Zeit, insbesondere in Hinblick auf die Dampf betriebene Maschinerie und die neuen darauf basierenden Transportmöglichkeiten.

Unabhängig davon wie man zu ihm steht, Marx war ein Universalgenie, das sich mit nahezu allen Themen seiner Zeit befasste und dazu Analysen, Kritiken und neue Gedanken formuliert hat. Er war absolut auf der Höhe seiner Zeit, heute würden wir sagen, ein moderner kosmopolitischer Mensch mit unfassbar breitem und gleichzeitig enormem Detailwissen. In seinem Hauptwerk „Kritik der politischen Ökonomie“, bekannt als „Das Kapital“, beschreibt er die Funktionsweise der Warengesellschaft, von ihm als Kapitalismus bezeichnet, und kritisiert sie gleichzeitig als zutiefst unmenschliches System, das eine verhängnisvolle Dynamik zur Verselbständigung gegenüber den Individuen in die Welt gesetzt hat und zwingend in der Barbarei und der ökologischen Katastrophe mündet. Es sei denn… die Menschen kommen mit den richtigen Alternativen in die Puschen.

Als Antwort auf die vielen „Jünger“ und Autoren, die in seinem Namen und im Namen seiner Theorien ihre eigenen Interpretationen verbreiteten, soll Marx einmal über sich selbst gesagt haben: „Alles, was ich weiß, ist, dass ich kein Marxist bin." Trotz seines Genies war Marx auch nur ein Mensch und hat im Laufe seines Lebens viel Wissen, Erkenntnisse und Erfahrungen angehäuft. Deshalb haben seine Theorien, wie kann es auch anders sein, immer wieder Wandel vollzogen. Einiges ist widersprüchlich, anderes im Licht neuer Erkenntnisse veraltet, aber erstaunlich viel und Grundlegendes nach wie vor gültig. Wie kein anderer bisher, hat Marx aus seiner Kapitalismus-Analyse heraus die Automatisierung der Produktion vorausgesehen, wie wir sie gerade in fast allen Produktions- und Lebensbereichen erleben.

Was hätte Marx dazu gesagt…?, ist schwer zu beantworten, da Zitate alleine nicht so viel zum Verständnis beitragen würden. Deshalb ist der Marx, der hier zu Wort gekommen ist, ein im Licht der wissenschaftlichen Forschung der Debatten der letzten 30 bis 40 Jahre ein interpretierter Marx. Man kann Marx selber lesen und ihn trotzdem nicht verstehen. Millionen Menschen, die sich früher auf ihn berufen haben, und die vielen, die es heute auch noch und wieder tun, haben ihn selten im Original gelesen und kennen meist nur einige weit verbreitete Zitate. Man kann ihn rauf und runter zitieren, was gerne und viel getan wird und trotzdem nicht erfassen, worum es ihm ging. Seine Ideen wurden durch kommunistische und sozialistische Parteien ideologisiert und zu leicht verdaulichen Häppchen verarbeitet, quadratisch, praktisch aber leider nicht gut. Seine Vorstellungen einer emanzipierten Gesellschaft sind in seinem Namen in ihr Gegenteil verkehrt worden. Als sein Beifahrer habe ich den vorliegenden Text von Eva nach bestem Wissen und Gewissen interpretiert und geschaut, wie er ihn wohl kommentieren und ergänzen würde. 

Gaston Valdivia

13.7.2020

Gaston Valdivia ist ein aktiver Gesellschaftskritiker in Theorie und Praxis. Meist hält er sich in Hamburg auf, zwischendurch in Südamerika. Er ist Angehöriger der Krisisgruppe und verschiedener internationaler Diskussionszusammenhänge und hat in Krisis, Karoshi, Jungle World, OjoZurdo u.a. publiziert. Im Mai ist er Opa geworden.

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